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wie damals

 

sie war nachmittags zu ihrer freundin geradelt, was ihm durchaus recht gewesen war, weil ihm so irgendein museumsbesuch oder kirchenkonzert erspart blieb. (das stand nämlich für gewöhnlich als sogenanntes „gemeinsames kulturprogramm“ am sonntag an; und seine frau hatte dabei immer ein sicheres gespür für irgendeine ausstellung, die ihn nicht im entferntesten interessierte, schleppte ihn auf irgendeine unbequeme kirchenbank, um gemeinsam dem absolut mittelmäßigen orgelspiel eines dorforganisten zu lauschen, der bach so spielte, daß man ungläubig werden mußte, wenn man es nicht ohnehin schon war.)

amelie hat eben angerufen … da muß ich mal wieder feuerwehr spielen, bei denen scheint derzeit die hölle loszusein … ich weiß sowieso nicht, was sie an dem mann findet, hatte sie gesagt, du verstehst, ich kann sie jetzt nicht allein lassen, du wirst dich schon auch ohne mich zu beschäftigen wissen.

so war er in richtung atelier aufgebrochen. unterwegs hatte er überlegt, was er nun mit dem unverhofft freien rest des tages anfangen könnte. - damals hätte ich es gewußt, dachte er plötzlich, als ihm wieder bewußt wurde, was ihm diesen nachmittag und abend ohne seine frau verschafft hatte; lena hätte ich angerufen, in einer knappen stunde wäre sie von oberhausen mit ihrem vw-käfer hierher gedüst und nichts hätte uns daran gehindert, die knisternde erotische spannung, die von anfang an wie ein magischer zauber über unserer beziehung geschwebt hat, durch handlung abzubauen ! –

nur einmal in der kurzen zeit ihrer so kurzen und leidenschaftlichen beziehung war sie nicht gekommen. ich muß morgenfrüh das manuskript meines neuen gedichtbandes beim verlag abgeben, hatte sie gesagt, und diese entschuldigung für ihr ausbleiben war ihm natürlich einleuchtend gewesen. (scherzhaft hatte er ihr noch gesagt, bring das manuskript doch direkt in die druckerei, in der meine frau arbeitet. aber diesen schlechten witz hat sie zu recht nicht verstehen wollen, dachte er jetzt.) -

ach, was waren wir glücklich … es war eine liebe, wie es sie noch nie gegeben hat … nie habe ich ein auch nur annähernd vergleichbares glück mit fee empfunden, begann er sich einzubilden.

als er im atelier angekommen die tür hinter sich zugezogen hatte (das klingt wie das zufallen eines gefängnistores, dachte er), überfiel ihn eine gewisse mattigkeit. und je länger er sich in erinnerungen an die zeit mit lena verstrickte, umso mehr wurde aus dieser mattigkeit eine melancholische gemütsverfassung. sie erschien ihm plötzlich genauso heftig und niederschmetternd wie damals vor sieben jahren. aber damals war es die krise in seiner noch so jungen ehe gewesen und der ekel bei der eigenen arbeit, gestand er sich kleinlaut ein.

er ging zu seinem schreibpult, um sich aus der schiebe eine schachtel zigaretten zu holen (normalerweise hatte er dort immer einen kleinen vorrat gehortet). als er die schiebe aufzog, sah er neben drei schachteln gauloise die dunkelblaue kladde liegen, die er vor einigen tagen so gesucht hatte, und es schien ihm jetzt genau der richtige moment gekommen zu sein, endlich etwas ausführlicher nachzulesen, was er sich seinerzeit alles als „gedankensalat“ (wie es auf dem einband stand) aufgeschrieben hatte.

als eine zigarette angezündet war und er sich in den schaukelstuhl gesetzt hatte, schlug er die erste seite auf. nur einen satz hatte er sich dort offensichtlich damals notiert; er las: „je älter man wird, desto schöner und lichter schimmert uns aus den frühen jahren die ideale liebe nach.“ - in klammern war darunter „jean paul“ geschrieben. schon damals hast du also jean paul gelesen, dachte er und blätterte weiter … an amelie gedacht / wie es zu ende ging / unschön damals / aber jetzt ist sie mir ganz nah / näher als fee jedenfalls / furchtbar dieser zustand / wie nur soll es weitergehen? … stand dort … und er sah eine wendeltreppe, die ihn ohne ende abwärts ins bodenlose führte …

 

(24. april 2005)

 

 

 

ohne erinnerung

 

wie er diesen tag verbracht hatte, konnte er beim besten willen nicht erinnern.

gottseidank fragt mich auch keiner danach, dachte er. –

die zeit war einfach so an ihm vorbeigetröpfelt, ohne daß er auch nur den hauch eines verstreichens gespürt hatte.

 

(25. april 2005)

 

 

 

parallelwelten

 

es gab so tage, da wußte er einfach nicht, ob sie überhaupt stattgefunden hatten. der heutige schien auch fast wieder so einer zu werden.

nachdem er irgendwann am späten vormittag die augen öffnete, schien ihm alles ganz unwirklich, sein eigenes atelier war ihm völlig fremd, auch die beiden an der wand lehnenden bilder und der von ihnen immer noch ausströhmende geruch von trocknenden ölfarben weckten zunächst keine erinnerung. als er sich aber endlich vom sofa erhob und sich in geradezu schlafwandlerischer sicherheit zur kochnische begab und dort halb automatisch die kaffeedose öffnete und wasser in die maschine schüttete, dämmerte es ihm langsam, wo er sich befand. er nahm aus dem waschbecken das nur flüchtig abgespülte geschirr, das sich dort in den letzten tagen angesammelt hatte, und stellte es nebenan auf die spüle, um sich die zähne zu putzen.

nachdem mit kaffee und der ersten morgenzigarette etwas leben in seinen körper zurückgekommen schien, stellte er das eine bild wieder auf die staffelei, starrte es einige minuten an und überlegte, ob es nicht durch ein paar eingriffe noch zu verbessern wäre. aber er mußte feststellen, daß sein kopf immer noch zu träge war, entscheidungen von solcher tragweite zu treffen.

ich lese lieber etwas, dachte er, vielleicht bringt hirnjogging mich ein bißchen mehr auf trab. aber von all den auf dem boden verstreuten büchern lockte ihn im moment keines wirklich. er war nicht ernsthaft erschreckt über diese lustlosigkeit (oder ist es doch eine grundsätzlichere erschöpfung, eine fundamentalere leere?, überlegte er nur für einen augenblick), denn eigentlich war ihm der momentane zustand durchaus vertraut, aber einen kleinen fluch auf die kunst konnte er sich nicht verkneifen.

um überhaupt etwas zu tun und nicht wieder in irgendeinen dämmerzustand zu fallen, ging er zum computer und schaltete ihn an. schon in den vergangen tagen hatte er ein paar mal mit erfolg (wie er sich zuredete) die zeit totgeschlagen, indem er einfach ziellos durchs internet gesurft war. es ist ja nur so etwas wie das hinüberwechseln von einer in die andere parallelwelt, dachte er, nur daß sich in der virtuellen parallelwelt des internets mehr menschen aufhalten als in der der kunst.

und tatsächlich gelang es ihm binnen kürzester zeit, alles um sich herum zu vergessen und sich fast willenlos von den zufällen und überraschungen durch diverse mausklicks treiben zu lassen, von seite zu seite sprang er und immer bezugsloser wurde das, was dabei vor seinen augen an belanglosen informationen und bildern vorbeiflimmerte. –

erst als das telefon mehrmals durchläutete, wurde er aus diesem besonderen zustand von abwesenheit herausgerissen. - jaja, ich komme ja schon, nicht so ungeduldig, murmelte er vor sich hin und nahm den hörer ab. – na, kannst du mir wieder einmal die „geburt eines kleinen meisterwerkes“ vermelden, schließlich hab ich dich seit gut zwei tagen nicht mehr gesehen, fragte seine frau am anderen ende der leitung, und da er schwieg (das schien ihm moment die angemessenste reaktion), fuhr sie fort, … sag mal, hattest du mal was mit amelie? – wie kommst du denn darauf?, antwortete er in entrüstetem tonfall (zumindest gab er sich mühe, diesen tonfall zu treffen). – als ich am sonntag bei ihr war - du erinnerst dich, sie hatte mich gerufen, um seelendoktor zu spielen – da machte sie so eine seltsame andeutung …

nein, sagte er in entschiedenem tonfall, warf den hörer auf die gabel und war mit einem mal hellwach.

 

(26. april 2005)

 

 

 

 

ausblenden

 

er wunderte sich selbst, wie ganz unerwartet bilder und erinnerungen wach gerufen geworden waren, die längst vergessen schienen. und das alles nur durch die lektüre im eigenen „gedankensalat“ vor wenigen tagen … da hat unser hirn wohl eine besondere gabe, unwichtiges irgendwann auszublenden und in der versenkung verschwinden zu lassen, hatte er gedacht. aber nun war mit einem mal (erst recht nach dem anruf seiner frau gestern) alles wieder ganz präsent.

es war während der „balzzeit“ mit fee gewesen (wenn man das mal so salopp sagen darf), da hatte er sie zum tennisplatz begleitet, weil sie sich dort mit ihrer freundin zu einem match verabredet hatte. sie wird dir gefallen, hatte sie gesagt, und in der tat hatte er an dem nachmittag kaum noch augen für seine noch relativ frische liebe „fee“, sondern verfolgte mit zunehmender faszination die tänzelnden bewegungen von amelie bei diesem match … ihr kurzes weißes röckchen flatterte während des spiels auf und ab und ziemlich regelmäßig blitzte dabei ihr kleiner roter schlüpfer unter dem röckchen hervor, wenn sie wieder zu einem kraftvollen schlag ausholte

(… und das spiel gegen fee gewann sie damals, fiel ihm ein, als sich der film vor seinem inneren auge abspulte …)

als sie anschließend im restaurant des tennisclubs zusammensaßen, spürte er, wie amelie durch einige frivole bemerkungen immer mehr sein männliches interesse an ihr zu wecken versuchte … was ihr schlußendlich auch gelungen ist, dachte er …

als fee sich verabschiedete, weil sie noch einmal bei ihren eltern vorbeischauen wollte, gab es kaum noch ein halten … ziemlich ohne weitere umschweife waren sie in ihre wohnung gefahren und dort entlud sich explosionsartig das, was sich während des nachmittags in ihm angestaut hatte …

noch ein zweites mal hatten sie sich (ohne daß fee es erfahren konnte) getroffen, zwei oder drei tage später war es wohl, überlegte er jetzt, aber schon da merkte er, nachdem das momentane triebhafte verlangen befriedigt war, daß amelie eigentlich ein mensch war, mit dem er gar nichts anfangen konnte; ihre geistige welt ist so groß wie ein tennisball, hatte er gedacht, als er sich aus ihrer wohnung schlich.

aber während der ersten ehekrise hatte er doch wieder an sie denken müssen (wie er ja selbst in seinem „gedankensalat“ gelesen hatte). aber als dann lena in sein leben getreten war (nein, wie ein blitz war sie eingeschlagen, verbesserte er sich), wurde mit einem schlag alles völlig anders, dachte er jetzt, denn lena war wie ich eine künstlerin … eine wortkünstlerin … und auch eine lebenskünstlerin … all das war amelie nicht …

aber diese geschichten sind doch mittlerweile längst schnee von gestern, meinte er (sich selbst damit beruhigend) beim weitergehen und bemerkte erst jetzt, daß die meisten geschäfte bereits geschlossen waren, ich wollte doch fee ein paar blumen mitbringen … aber vielleicht ist es auch gut so … sie hätte sonst verdacht geschöpft …

als er die haustür der gemeinsamen wohnung öffnete, stand dort amelie (was macht die denn hier?, schoß es durch seinen kopf); in irgendwie vertrautem tonfall sagte sie: ich muß mit dir reden …

 

(27. april 2005)

 

 

 

im traum wie im wachen

 

warum geht es plötzlich seit ein paar tagen nicht weiter? … ist er gestorben? … hat verzweiflung sein hirn so gelähmt, daß es verstummt ist? … oder ist er einfach nur müde, immer wieder diese lena oder amelie durch seine gedanken springen zu sehen? –

per mausklick ließ er sich die seite noch einmal aktualisieren. – nein, keine änderung, dachte er, immer noch alles genauso, wie vor drei tagen.

schon seit knapp zwei wochen hatte er sich angewöhnt, nachts, wenn er nicht mehr die konzentration hatte, den philosophischen gedankengängen eines immanuel kant zu folgen (den er angefangen hatte, ein erneutes mal in kleinen dosen für sich zu entdecken), aber auch noch nicht müde genug war, um sich ganz der traumwelt hinzugeben, schnell noch einmal den computer anzuwerfen, um zu sehen, wie die geschichte weitergegangen ist, die da auf einer internetseite jeden tag ein kleines stück weitergeschrieben wurde. er war ganz zufällig auf diese seite gestoßen, in diesen stunden, die er mit surfen in der anderen parallelwelt totschlagen wollte. (vermutlich war er dort gelandet, als er einmal bei google die suchworte lena und lyrik eingegeben hatte … aber genau konnte er das nicht mehr sagen)

die geschichte dort (unter: buehnehirn.de/herztoene.htm) hatte so verwirrend viele ähnlichkeiten mit seiner eigenen, wie er feststellte, je weiter sie fortgeschrieben wurde. (das bildete er sich jedenfalls ein)

… irgendwie schade, daß es nicht weitergeht …, dachte er, schaltete den computer aus und dafür das fernsehgerät an.

nach einer kleinen weile warmlaufen erschien das bild. (sein altes schwarzweiß-gerät aus studententagen funktionierte immer noch und ihm reichten die drei programme, die es empfangen konnte) im 1. programm lief ein film, und nach wenigen sequenzen wußte er auch schon, welcher film es war, er hatte ihn vor einigen jahren schon im kino gesehen. jetzt aber verspürte er kein bedürfnis, noch einmal mitzuerleben, was der kriegskorrespondent werner an bord von u-96 mitmacht, wie für die besatzung das boot  in 270 metern tiefe zur hölle wird. er schaltete weiter. im zdf lief das sportstudio. auch nichts für mich, dachte er, mal sehen, was im dritten läuft …

dort plauderte ein peter maffay über sein leben und seine karriere, und zwischendrin empfing der moderator anrufe von zuschauern. – ihm kam plötzlich eine idee … er griff zum telefon und wählte die eingeblendete nummer.

als sein anruf durchgestellt war, beobachtete er von seinem schaukelstuhl aus ganz genau das gesicht des moderators am bildschirm.

- hier kommt ein anruf von … domian … nanu? … seltsam … nun denn: hallo domian.

- guten abend domian, ich dachte, ich sollte dich mal in der sendung anrufen.

- sag mal, heißt du wirklich domian?

- ja, aber nicht wie du mit nachnamen, domian ist mein vorname.

- das ist aber komisch.

- finde ich auch, denn als ich geboren wurde gab es deine sendung noch nicht, ich weiß nicht warum meine eltern mir diesen namen gaben.

- das kann ich dir natürlich auch nicht sagen, hast du sie nie danach gefragt?

- nee, mein vater hat direkt nach meiner geburt das weite gesucht.

- du meinst, er hat deine mutter verlassen? das war für deine mutter sicherlich ein schock … hat sie dich allein großgezogen?

- die hatte bald einen neuen freier, aber der hat gesoffen wie ein loch und irgendwann hat er sie erschlagen.

- da hattest du ja keine leichte kindheit … rufst du deshalb an? … hast du nicht eine frage an peter maffay? … aber dessen biographie hat wohl nicht so dramatisch ausgesehen … stimmts, herr maffay.

- nee, peter maffay interessiert mich nicht.

- was ist dann der grund deines anrufes?

- ich wollte dir mal was sagen.

- und was ist das?

- schon 2 mal träumte ich: ich stellte mich, um mich an andern zu rächen, wahnsinnig; und ich fand auch im traum wie im wachen, meine vorstellung ächt-toll.

- ist das dein problem?

- nee, das ist von jean paul.

 

(30. april 2005)

 

 

 

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