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H E R Z T Ö N E  [2]

 

 

 

 

 

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kaffeepause

 

es war kurz nach zwei. in der kleinen kochnische seines ateliers röchelte die espresso-maschine, er fischte sich seine tasse aus dem waschbecken und füllte sie mit dem getränk, das er um diese zeit brauchte, wie andere den mittagsschlaf.

er setzte sich in seinen schaukelstuhl und stellte die tasse auf dem boden ab, um sich eine gauloise aus der schachtel zu ziehen. er lehnte sich zurück und schaute auf die zwei breiten, schwarzen, schwungvoll hingeworfenen pinselstriche auf der leinwand vor sich; immerhin ein erster anfang, dachte er, wie könnte es weitergehen …? –

es klingelte.

… ach ja, die zehn keilrahmen, die ich bestellt hatte, sollten ja heute geliefert werden …; er ging zum fenster, öffnete es und schaute runter, aber der lieferwagen der firma war nicht zu sehen. hallo, rief er runter, wer ist da? – ich bin’s …, schallte es zurück.

was führt sie denn um diese zeit hierher, dachte er, eigentlich arbeitet sie doch bis halbfünf in der druckerei. er drückte den türöffner und verstaute schnell ein paar herumliegende kleidungsstücke. (ordnung war nie seine stärke gewesen; aber eine werkstatt ist schließlich kein wohnzimmer, hatte er ihr immer gesagt)

der vertraute klang ihrer eiligen schritte im treppenhaus … unverwechselbar, dachte er; und dann stand sie in der tür. nur ein flüchtiger kuß von ihr … ebenfalls unverwechselbar …

was ist los, warum kommst du hierher … um diese zeit? - wollte mal sehen, wie es dir geht, du warst seit drei tagen nicht zuhause. na und, dachte er, das ist doch nichts ungewöhnliches, das kennt sie doch von mir, wenn die „geburt eines kleinen meisterwerkes“ bevorsteht (so manchmal ihre hämischen worte über seine malerei). hab drüber nachgedacht, was von mir bleiben wird, sagte er statt dessen leicht ironisch.

sie setzte sich. – und, zu welchem ergebnis bist du gekommen? –

oh, wie er diesen vorwurfsvollen unterton in ihrer stimme kannte! warum kann sie mich nicht in ruhe lassen, in diesem moment, wo tatsächlich endlich wieder ein bißchen strom durch mein hirn fließt? – er nahm sie wortlos beim arm, deutete auf das immer noch offene fenster … komm, sagte er, schau mal … sie erhob sich (in zeitlupe, wie es ihm erschien) und folgte ihm die wenigen schritte ans fenster …

siehst du dahinten neben der großen baumkrone über dem dachfirst des hauses gegenüber die beiden kirchtürme? – da soll kürzlich jemand runtergesprungen sein, weil er keine antwort wußte auf die fragen, die das leben ständig stellt.

was soll das, fragte sie, warum erzählst du mir diese schauergeschichte? ich möchte sehen, ob du fliegen kannst, antwortete er und stieß sie mit einem kräftigen ruck (es war genaugenommen eigentlich kein besonderer kraftaufwand) aus dem fenster. –

es klingelte.

er schreckte hoch aus seinem schaukelstuhl. es klingelte wieder. – das telefon, er blickte auf seine armbanduhr: halbdrei. wer ruft um diese zeit an, dachte er.

als er sich erhob, stolperte er mit dem linken fuß über die espressotasse auf dem boden, deren inhalt sich über den ohnehin schon ziemlich mitgenommenen teppich ergoß.

 

(14. april 2005)

 

 

 

zwei welten

 

wie ein tier hatte er den ganzen tag gearbeitet … ein richtiger rauschzustand hatte ihn erfaßt … irgendwie hatte sich alles ganz von alleine ergeben. ohne auch nur den geringsten inneren widerstand waren die farben und pigmente mit pinsel, spachtel und schwamm auf die leinwand geflossen, gequetscht, geschmiert … ein geradezu labyrinthisches netz sich überlagernder gitter und verschachtelnder flächen in überwiegend dunkler tönung füllten die bildfläche …

das hat energie, dachte er, die reicht weit über die grenzen des rahmens hinaus, in das irgendwann jemand das bild zwängen wird, weil es sonst nicht in sein so bürgerlich miefiges wohnzimmer paßt …

er entkorkte die flasche bordeaux, die er eben an der aral-tankstelle unten an der ecke gekauft hatte (man kann froh sein, daß unsereins um diese zeit – kurz vor mitternacht – überhaupt noch irgendwo eine flasche wein kaufen kann, wenn ein „notstand“ eingetreten ist, dachte er), und um nach ein paar tagen abstinenz vom realen leben (was ja nie so recht das seine gewesen ist) zumindest mal wieder einen kurzen flüchtigen kontakt zu diesem aufzunehmen, entschloß er sich, den computer anzuwerfen, um nachzuschauen, was sich in seiner mailbox angesammelt hatte.

während der computer hochfuhr, schlürfte er an seinem weinglas … für 5,98 darf man wohl nicht mehr erwarten, dachte er …

„in ihrem postfach befinden sich drei ungelesene nachrichten“, las er auf dem bildschirm. siehst du, nichts hast du verpaßt, dachte er und öffnete die eingänge: eine mail, die er sofort als spam erkannte, warb für potenzmittel; brauche ich nicht, dachte er, war heute potent, hab ein bild gezeugt, und beförderte sie mit einem mausklick in den papierkorb (schon immer hatte er sich über den bildschirmpapierkorb amüsiert, der so gar nicht in die elektronisch virtuelle welt zu passen schien, wie er fand). die zweite mail war eine einladung zu einer ausstellung in zwei wochen in düsseldorf, gesendet von dem galeristen, mit dem er sich schon vor jahren wegen unsauberer geschäfte zerstritten hatte. warum belästigt der mich immer noch, dachte er.

als er die dritte mail zum lesen öffnete, stutzte er – „das geistige muß man ahnen - das körperliche schauen - und dann beides umgekehrt darstellen“, las er etwas verdutzt. mehr stand nicht dort … in der betreffzeile „gruß von jean paul“, der absender war ihm völlig unbekannt, „le.ide@hotmail.com“ stand in der entsprechenden zeile. 

seltsam, dachte er, wer schickt mir das? … und warum? … ist mit jean paul der dichter gemeint? – und während er immer mehr ins grübeln geriet, bemerkte er, wie die farben auf dem gerade fertigen bild sich zu verflüssigen begannen und langsam aber stetig auf den boden tropften.

 

(15. april 2005)

 

 

 

 

schwarz auf grau

 

es war mal wieder so ein tag, wie er ihn mochte: kein sonnenschein, einheitlich grau verhangen der himmel, etwas diesig, leicht kühl … da kann man am besten atmen, dachte er, und vor allem ist der stadtpark nicht so voll von leuten, wie sonst am wochenende.

er war am späten vormittag nur kurz in die gemeinsame wohnung gefahren, um dort in seiner bibliothek nach der jean paul-ausgabe zu suchen (im atelier standen fast ausschließlich kunstbände und ansonsten nur die paar bücher, die er gerade las oder vorhatte, zu lesen). seine frau war nicht zuhause gewesen, erledigte wohl den wochenendeinkauf; … und hatten sich nicht gäste für heuteabend angekündigt?, war ihm plötzlich eingefallen, als er das aufgeschlagene kochbuch auf dem küchentisch liegen sah und daneben einen zettel mit kurzen notizen in ihrer handschrift. er hatte den bleistift genommen, der wie für ihn dahingelegt schien, und hatte auf die untere, noch freie fläche des zettels geschrieben: war kurz hier, bis später, gruß & kuß. er hatte noch schnell ein herz dazugezeichnet, war dann ins wohnzimmer gegangen, hatte von den jean paul bänden, die sofort gefunden waren, das ideen-gewimmel aus dem regal gezogen (dort vermutete er den satz, der ihn in der gestrigen mail so verstört hatte), und war darauf ohne umwege zum stadtpark gefahren.

im stadtpark ging er seine üblichen wege, etwa einer stunde dauerte das immer. tatsächlich drehten nur ein paar jogger unermüdlich ihre runden, meist männer im dem alter, wo sie glauben, damit dem unaufhaltsamen ende ihrer jugend ein schnippchen schlagen zu können. jugend ist nicht eine sache des körpers, sondern des kopfes, dachte er, setzte sich auf eine parkbank und schlug den jean paul auf. er blätterte wie zufällig die seiten, überflog zunächst einmal die stellen, die er sich damals angestrichen hatte, oder die mit eigenen anmerkungen versehen waren. den satz aber, den er suchte, fand er nicht, doch das war ihm jetzt auch schon fast unwichtig geworden, jetzt amüsierte er sich erst einmal über manch spöttischen kommentar, den er seinerzeit an den rand gekritzelt hatte. gedanken pflanzen sich fort wie tiere und menschen, dachte er, … und alles ist schon einmal gedacht worden … aber jean paul ist dabei der beste von allen geburtshelfern bei scharfsinnigem und scharfzüngigem denken… – und dann … sein inneres schmunzeln gefror schlagartig … stolperte er über drei worte, die in seiner ziemlich fahriger schrift am rechten rand standen: „aus der traum!“ … und darunter stand ein datum: 15. 4. – (von jean paul war zu lesen: „nach einem bösen traum sieht man, welchen stoff zu einer hölle ein bloßes gehirn in sich aufbewahrt.“) –

lena !, schoß es ihm durch den kopf, lena, nein das darf nicht wahr sein … aber wer sonst? … ja es konnte nur lena gewesen sein … von ihr mußte die irritierende mail von gestern sein … ! – er spürte das blut in seinen schläfen pulsieren, papier und buchstaben der aufgeschlagenen seite vermischten sich in ein streifiges grau, der himmel verdüsterte sich zusehends. er schloß die augen …

alles um und in ihm wurde schwarz –

was ist los mit dir? du siehst kreidebleich aus!, hörte er eine vertraute, aber ferne stimme sagen. – als er die augen öffnete, stand fee gebeugt über ihm. sie wischte

ihm den schweiß von der stirn und sagte, bleib erst einmal ruhig so liegen …

 

(16. april 2005)

 

 

 

sehnsucht nach liebe

 

… was und wer bist du denn? … eine ganz kleine miese wortfanatikerin bist du, säuselst in blumigen metaphern von liebe, von der du auch nicht den dunst einer ahnung hast, und was für läppische naturbilder du ständig bemühst, es ist kaum zu ertragen, das soll lyrik sein …

immer weiter hatte er sie beschimpft, immer unglaublichere hasstiraden loßgelassen, bis sie schließlich weinend sein atelier verlassen hatte ohne irgend etwas zu entgegnen. - er war damals in keiner guten verfassung gewesen, er hatte keine ahnung gehabt, wie es mit seiner malerei weitergehen sollte, die eigene arbeit ödete ihn an (obwohl gerade gleichzeitig die erfolgskurve der öffentlichen wahrnehmung seiner bilder steil nach oben gegangen war), zudem hatte es schon nach wenigen monaten in seiner noch jungen ehe kräftig gekriselt, und so hatte er in lena das gefunden, was er zuhause vermißte; sie lenkte ihn zunächst auf so angenehme weise ab von dem, was ihm zahllose schlaflose nächte bereitet hatte. aber dann hatte ihn der eigene selbstzweifel wieder so eingeholt, daß er an jenem abend wie außer sich alle angestaute wut auf lena projiziert hatte, sie an ihr auslies …

schon am nächsten tag hatte es ihm leid getan, aber es war eben nicht nur ein böser traum gewesen, sondern war bittere realität. alle versuche einer entschuldigung scheiterten, lena schwieg am telefon, dann schwieg die leitung, seine briefe blieben unbeantwortet und wurden schließlich als unzustellbar an ihn zurückgeschickt.

sieben jahre ist das schon her, ja genau sieben jahre , dachte er und bemerkte, daß er immer noch die wochenendausgabe der faz in händen hielt. im aschenbecher neben dem schaukelstuhl verglühte gerade der letzte rest seiner zigarette. er blätterte zum feuilleton, dabei fiel sein blick wie zufällig auf diese worte: „ohne die liebe im weitesten und tiefsten sinne kann und will sie die welt nicht wahrnehmen. diese dichterin ist, könnte man sagen, eine panerotikerin. erotisch ist ihr verhältnis zur natur, zu den menschen und den tieren, zum mond, zur sonne und zu den sternen, zum ganzen universum …“ – lena, das ist lena !, wer schreibt das über sie?, dachte er, wie wunderbar gesagt – und es legte sich der glanz der verklärung über seine erinnerung …

(als er später den ganzen artikel las, stellte sich heraus, daß es sich um eine kurze würdigung von m. r.-r. zum 70. geburtstag von sarah kirsch gehandelt hatte.)

 

(17. april 2005)

 

 

 

es malt

 

er, der selbsterklärte „nachtlauscher“, lauschte mal wieder in die nacht, d. h. in diesem fall lauschte er mehr den im moment für ihn eher unverständlichen klängen, die leise aus seinem altersschwachen kofferradio tönten … dabei schaute er geradezu beschwörend auf die weiße, völlig unbefleckte leinwand, die er sozusagen als „brüllende herausforderung“ (so hatte er sich selbst zugemurmelt) auf die staffelei gestellt hatte. keine sekunde war er mit seinem blick und seiner konzentration von dieser weißen fläche gewichen, er konnte nicht sagen, wie lange er schon in dieser für außenstehende sicherlich idiotisch wirkenden, entspannten und gleichzeitig höchst gespannten haltung verharrte … unzählige ungemalte und gemalte bilder hatte er dabei schon gesehen (die jeder andere natürlich nicht gesehen hätte). irgendwie ist das eine heilige stimmung jetzt, dachte er für einen kurzen moment … ja, jetzt ist es soweit … er griff zwei pinsel gleichzeitig (was sonst nicht seine art war), und wie in trance begannen diese zwischen farbtöpfen und leinwand hin und her zu schwingen, immer schneller und heftiger wurden dabei seine gleichzeitigen armbewegungen von links und rechts, so schien es ihm jedenfalls, und sie schienen seinem eigenen willen entglitten zu sein, wie er bemerkte, als er wie zum test „ende“ gerufen hatte. es war nichts zu machen, es malte und malte weiter …

der magische spuk war erst vorbei, als die nachrichten im radio angekündigt wurden. doch von den katastrophen des tages, die dort in unbeteiligt neutralem tonfall verkündet wurden, bekam er nichts mit, denn als er zurücktrat, um mit etwas abstand zu begutachten, was auf dem bild zu sehen war, mußte er sich zweimal die augen reiben … nein, kein irrtum … in den verschlungenen und wüstbunten schlieren und schleifen waren unzweifelhaft buchstaben zu erkennen, ja, ein ganzes wort stand dort, wenn man nur genau hinschaute: feelena … (oder war es lenafee?)

 

(18. april 2005)

 

 

 

 

 

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